Soziale Entschädigung

Aufarbeitung

Informationen zur wissenschaftlichen Aufarbeitung und deren Ergebnissen

Wissenschaftliche Aufarbeitung

Die Arbeit der Stiftung wurde in den Jahren 2018 bis 2021 von einem Forschungsprojekt begleitet. Die Forschungsgruppe bestand aus vier Teams und war fachübergreifend organisiert. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kamen aus dem Bereich der Medizingeschichte, der Medizinethik, der Geschichte, der Ethik und Pädagogik. Sie verfügten über sehr gute Erfahrungen im Bereich der historischen Aufarbeitung von Institutionen.

Die Forschungsgruppe untersuchte die Unterbringungssituation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie in der BRD (1949 - 1975) und der DDR (1949 - 1990).

Ziel war es, die Leid- und Unrechtserfahrungen intensiv zu beleuchten und zu erfassen sowie Art und Umfang der Geschehnisse nachvollziehbar zu machen. Damit wurde ein wesentlicher Beitrag zur Bewältigung und Aufarbeitung des Erlebten auch in der Gesellschaft geleistet; das erlebte Leid und Unrecht wurde öffentlich sichtbar gemacht. Die Missstände der Vergangenheit sollten nicht nur aufgedeckt, sondern es sollten auch Lehren für die Zukunft gezogen werden.

Zusammensetzung des Teams zur wissenschaftlichen Aufarbeitung

Prof. Dr. Heiner Fangerau
Dr. Nils Löffelbein

Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Prof. Dr. Volker Hess
Laura Hottenrott

Charité Berlin

Prof. Dr. Maike Rotzoll
Dr. Christof Beyer
Universität Heidelberg

Universität Heidelberg

Prof. Dr. Karsten Laudien
Prof. Dr. Anke Dreier-Horning
DIH - Deutsches Institut für Heimerziehungsforschung gGmbH - Evangelische Hochschule Berlin

Evangelische Hochschule Berlin

Ergebnisse

Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung wurden im Rahmen einer digitalen Veranstaltung am 14. Oktober 2021 vorgestellt.

Hintergrund

Im Oktober 2017 beauftragte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Auftrag der Stiftung ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Standorte unter der Koordination der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf damit, Leid und Unrecht in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in West- und Ostdeutschland zu untersuchen.

Das Forschungsteam verfolgte das Ziel, ein möglichst breites Spektrum von psychiatrischen Anstalten und Heimen einzubeziehen und konnte schließlich 17 kinder- und jugendpsychiatrische Abteilungen an psychiatrischen Krankenhäusern und Universitäten sowie Heime für Minderjährige mit Behinderung in der BRD und der DDR untersuchen. Analysiert wurden Einrichtungen in öffentlicher, katholischer und evangelischer Trägerschaft. Innerhalb des Projektes sind insgesamt über 1.500 Fallakten und rund 60 Interviews mit Betroffenen, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ausgewertet worden. Hinzu kamen über 170 Zuschriften von Betroffenen, Angehörigen oder ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die das Projekt über ein im Internet eingerichtetes Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenportal erreichten.

Vorgehen

Auf dieser Informationsbasis rekonstruierte das Forschungsteam in Querschnittsstudien den Lebensalltag in den Einrichtungen und untersuchte Formen pädagogischer, medizinischer und therapeutischer Gewalt sowie den Einsatz von Arzneimitteln und möglicherweise durchgeführte Medikamentenstudien.

Weitere Aspekte der Analyse waren sexuelle Gewalterfahrungen, erzwungene oder nicht entlohnte Arbeit sowie der Verlust bzw. das Vorenthalten von persönlicher, beruflicher und sozialer Lebensqualität.

Zur Einordnung der Lebens- und Unterbringungsbedingungen wurden die allgemeine institutionelle Landschaft zur Unterbringung von Minderjährigen sowie rechtliche Aspekte von Einweisung und Unterbringung in den jeweiligen Untersuchungszeiträumen für BRD und DDR näher umrissen.

Unrecht fasste das Forschungsteam dabei in der Studie nicht allein als die Verletzung gesetzlich verankerter individueller Rechte, sondern auch als Verminderung von Lebenschancen in Folge struktureller Mängel und juristischer Grauzonen auf. Leid wurde als subjektive Erfahrung begriffen, die nicht zwingend mit gesetzlich definiertem Unrecht einhergehen muss.

Mit diesem Verständnis von Leid und Unrecht sollte angesichts der besonders schutzwürdigen Interessen von Minderjährigen mit Hilfe der Orientierung am Kindeswohl zu einer umfassenden historischen Aufarbeitung und Bewertung der Geschehnisse beigetragen werden.

Ergebnisse

  • Adäquate Einrichtungen für Minderjährige mit psychischen Erkrankungen und/oder Behinderungen waren in beiden deutschen Staaten nur unzureichend vorhanden. Der individuelle Förderbedarf von Kindern und Jugendlichen wurde vernachlässigt. Neben mentalitätsgeschichtlichen Rahmenbedingungen und Erziehungsidealen spielte der über weite Teile der Untersuchungszeiträume vorherrschende Mangel an passenden Behandlungs- und Betreuungsplätzen hier eine entscheidende Rolle. Die Kontrolle von Einrichtungen durch die zuständigen öffentlichen Behörden war mangelhaft.
  • Die Einrichtungslandschaft in Ost und West war bis in die 1970er Jahre durch dauerhafte Unterfinanzierung, Personalmangel, Raumnot, ausbleibende Sanierungen und Überbelegungen gekennzeichnet. Während sich für die BRD insgesamt eine Verbesserung dieser Verhältnisse im Kontext von Reformbemühungen ab den 1970er Jahren nachweisen lässt, blieben diese Mängel in der DDR im Prinzip bis mindestens 1990 bestehen. Die Unterbringung nach der vorrangigen Maßgabe von freien Plätzen begünstigte "Fehlplatzierungen" in nicht geeigneten Einrichtungen.
  • Pädagogisch begründete Zwangs- und Strafmaßnahmen sowie demütigende Erfahrungen lassen sich in allen untersuchen Einrichtungen ­- wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmaß - ­feststellen. Dazu gehörten unter anderem körperliche Gewalterfahrungen, die Isolation in gesonderten Räumen, Demütigungen, Missachtung der Intimsphäre, Essenszwang oder Essensentzug sowie Fixierungen (Fesseln).
  • Die prekären Zustände in den Einrichtungen begünstigten die genannten Formen von Leid und Unrecht, wenngleich die Bedingungen, unter denen das damalige betreuende und therapeutisch arbeitende Personal tätig war, niemanden von begangenen Unrechtstaten entlastet und das Leid der Betroffenen nicht rechtfertigt.
  • Als leidvoll erlebte oder ungerechtfertigte medizinische bzw. therapeutische Maßnahmen lassen sich vor allem in Kinder- und Jugendpsychiatrien feststellen. Mangelhafte Unterbringungsbedingungen begünstigten in allen untersuchten Einrichtungen eine kontinuierliche, auf einen störungsfreien Betriebsablauf ausgerichtete medikamentöse Beruhigung der Minderjährigen. Hochdosierte und mit unerwünschten Nebenwirkungen verbundene Arzneimittelverabreichungen waren dabei weit verbreitet. In einigen Einrichtungen kamen auch Testpräparate zur Anwendung. In nicht wenigen Fällen wurden medizinische Maßnahmen im Einrichtungsalltag als Straf- und Disziplinierungsmittel angewandt (z.B. Elektrokrampftherapie, zwangsweise "Bettruhe", Fixierungen). Kinder und Jugendliche in den Einrichtungen der Behindertenhilfe waren aufgrund der zumeist jahrelangen Unterbringung den Zwangs- und Gewaltmaßnahmen allerdings in der Regel dauerhafter ausgesetzt als die Patientinnen und Patienten in den lediglich zur diagnostischen Abklärung bestimmten Kliniken.
  • Mangelnde Fördermöglichkeiten innerhalb und außerhalb der untersuchten Einrichtungen trugen wesentlich zum Vorenthalten von persönlicher, beruflicher und sozialer Lebensqualität bei. Ein defizitorientierter Blick auf die Minderjährigen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen verhinderte zu großen Teilen der Untersuchungszeiträume in beiden deutschen Staaten eine angemessene Förderung. Der Arbeitseinsatz von Bewohnerinnen und Bewohnern bzw. Patientinnen und Patienten in den Einrichtungen geschah oftmals unter Zwang und ohne Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der Minderjährigen.

Schlussfolgerungen

  • Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstreichen den Bedarf nach lokal und regional fokussierten Aufarbeitungsbemühungen.
  • Eine wesentliche Erkenntnis des Forschungsprojektes ist, dass hinsichtlich der Leid- und Unrechtserfahrungen in den untersuchten Einrichtungen bis in die 1970er Jahre kaum Unterschiede zwischen der BRD und der DDR feststellbar waren. Trotz der Systemdifferenz und den unterschiedlichen politischen, pädagogischen und gesundheitspolitischen Voraussetzungen waren strukturelle Mängel in beiden deutschen Staaten ähnlich stark ausgeprägt.
  • Gleiches gilt für ein bis in die 1960er Jahre überwiegend vorherrschendes Desinteresse beider Gesellschaften an der Situation von Minderjährigen mit geistigen Behinderungen und psychischen Erkrankungen.
  • In der BRD setzte ab etwa 1970 vor allem durch den Druck einer kritischen Öffentlichkeit ein Wandel ein, der bedingt auch die konfessionellen Einrichtungen in der DDR erreichte. Hier sind im Rahmen der Möglichkeiten unauffällig Fördermöglichkeiten entwickelt und eine kritische Haltung zur Anstaltsverwahrung ausgebildet worden. Gleiches lässt sich für die Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens der DDR, nur sehr eingeschränkt feststellen.